Unsere Namensgeberin
Marie Baum
Ein Leben in sozialer Verantwortung
Marie Baum wurde am 23. März 1874 in Danzig geboren und verstarb nach kurzer Krankheit am 8. August 1964 in Heidelberg im Alter von 90 Jahren.
In ihrer Wahlheimat Heidelberg, in der sie 36 Jahre lang wohnte, lebt ihr Name fort. Denn in Anerkennung ihrer Verdienste um die Ausbildung von jungen Frauen für soziale und pädagogische Berufe erhielt unsere Schule 1974 auf Vorschlag der ehemaligen Schulleiterin, Frau Oberstudiendirektorin Beyer, ihren Namen.
Mütterlicherseits war Marie Baums Großmutter die Schwester des berühmten Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy, ihr Großvater der namhafte Mathematikprofessor Lejeune Dirichlet, der direkte Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Carl Friedrich Gauß in Göttingen.
Väterlicherseits war Marie Baums Großvater ein bekannter Professor der Chirurgie, der – auch in Göttingen ansässig – eine berühmte Chirurgenschule begründete.
Ihr Vater, Wilhelm Georg Baum, wurde ebenfalls Chirurg und war zuletzt Chefarzt des Städtischen Krankenhauses in Danzig. Marie Baum schildert ihren Vater als einen sehr sensiblen, warmherzigen und charismatischen Menschen, der seine Bestimmung im Helfen und Heilen sah und der sich den Leidenden mit ganzer Persönlichkeit hingab, sich bis an die Grenzen der Kraft verausgabte und viele Patienten unentgeltlich behandelte.
Ihre Mutter, die Mathematik-Professorentochter Flora Baum, legte großen Wert auf eine den Neigungen ihrer sechs Kinder entsprechende Ausbildung.
Ganz dem Geist der Aufklärung verpflichtet, sorgte sie auch bei ihren Töchtern für eine solide schulische Bildung. Da ein gehobener Schulabschluss für Mädchen in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts jedoch nicht möglich war, organisierte Flora Baum so genannte Realkurse, die als Vorbereitung auf ein externes Abitur geeignet waren und beteiligte sich selbst maßgeblich an der Unterrichtung ihrer 4 Töchter.
Als Spross der Mendelssohnschen Familie führte sie deren ausgeprägte Schreibkultur fort, so dass allein Marie nach ihrem Auszug aus dem Elternhaus jährlich ca. 30 Briefe von ihrer Mutter erhielt. Obwohl selbst wissenschaftlich nicht tätig, war Flora Baum von der naturwissenschaftlichen Erkenntnisfähigkeit überzeugt. Dieser optimistische Glaube prägte Marie Baums Studienwahl. Doch dazu musste sie in die Schweiz, wo sie zunächst mit 19 Jahren die externe Abiturprüfung mit dem Notendurchschnitt 1,4 in Zürich ablegen konnte, um dann dort an der Universität gleich das Studium der Naturwissenschaften mit dem Hauptfach Chemie aufzunehmen.
1896 legte sie 22 jährig ihr Diplomexamen als Fachlehrerin für Naturwissenschaften ab, betreute danach als Assistentin in einem Übungslabor 60 Studenten und erwarb mit 25 Jahren den Doktortitel.Man bestaunte und bewunderte sie als eine Kuriosität, als ein Unikum unter lauter männlichen Akademikern.
Ihr Doktorvater, Professor Bamberger, schrieb in das Zeugnis von Marie Baum: „Frl. Baum hat […] ihr Examen […] mit ausgezeichnetem Erfolg bestanden. (Sie) […] ist eine außerordentlich geschickte, selbständig und fein beobachtende Experimentatorin, ist von außerordentlicher Energie und Initiative und zu wissenschaftlicher theoretischer und experimentaler Tätigkeit in hervorragendem Maße befähigt. Auch wenn ich ihre Fähigkeiten und Leistungen mit dem strengsten Maßstabe messe, welche ich bei Studierenden männlichen Geschlechts anzuwenden pflege, kann ich ihr ein in jeder Beziehung glänzendes Zeugnis ausstellen, wie ich es selten zu geben in der Lage bin. Ich glaube, dass jede Fabrik, die Frl. Baum engagiert, mit dieser Aquisition sehr zufrieden sein wird.“
Zürich war die erste große prägende Station in Marie Baums Leben. Hier, wo für sie die Jugend, die Freiheit und die Hoffnung lagen, lernte sie andere Frauen kennen, die wie sie eine wissenschaftliche oder künstlerische Ausbildung absolvierten. Mit ihnen erlebte sie ihre Studienjahre in enger Gemeinschaft. Mit einigen von ihnen begründete sie lebenslange Freundschaften, wie z.B. mit der bekannten Malerin, Graphikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz, mit der sie besonders das soziale Engagement verband.
Des Weiteren sei vor allem die Dichterin, Historikerin und Philosophin Ricarda Huch genannt, die zur vertrautesten und engsten Freundin Marie Baums wurde und die später drei Jahre bei ihr in Heidelberg wohnte.
Nach ihrer Promotion gelang es Marie Baum bei AGFA in Berlin eine Anstellung als Chemikerin zu finden. Sie wurde sehr geschätzt. Doch dieser Wirkungskreis war ihr zu unpersönlich, um ihrem warmherzigen Wesen zuzusagen. Vorzeitig und entschlossen kündigte sie ihre Stellung, und zog 1902 nach Karlsruhe um, wo sie als beamtete Fabrikinspektorin beim badischen Innenministerium die gesetzlichen Arbeitsschutzbestimmungen für Frauen und Jugendliche zu überwachen hatte. Die Inspektionsreisen durch das schöne Badener Land und die tausendfache Berührung mit Menschen aller Schichten empfand Marie Baum als sinnerfüllende Tätigkeit. Mit dieser Aufgabe hatte ihre soziale Wirksamkeit begonnen. Die Lage der Benachteiligten erzeugte in ihr ein leidenschaftliches Engagement. Sie sah viel Elend, das ihr auf der Seele brannte. Und wo immer sie konnte trug sie zur Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse bei.
Ihre förmliche Gleichstellung mit den männlichen Kollegen trugen ihr jedoch so viele Reibereien und Schwierigkeiten ein, dass sie 1907 um Entlassung aus dem Staatsdienst bat, um dann 9 Jahre lang als Geschäftsführerin des Vereins für Säuglingsfürsorge in Düsseldorf zu arbeiten. Hier entwickelte sie ihr Konzept der Familienfürsorge, womit sie zu einer Wegbereiterin der modernen Sozialarbeit wurde.
Am Ende des 1. Weltkrieges entschloss sich Marie Baum zu einem parteipolitischen Engagement, um sich am Aufbau der Demokratie zu beteiligen. Sie trat in die Deutsche Demokratische Partei ein und wurde Abgeordnete in der Nationalversammlung und im Reichstag von 1919 bis 1921.
Aufgrund ihrer Leistungen auf dem Gebiet der Wohlfahrtpflege und ihrer hervorragenden Arbeit als ehemalige Fabrikinspektorin erhielt sie ab 1919 eine Referentenstelle beim badischen Arbeitsministerium im Rang einer Oberregierungsrätin. Damit wurde Marie Baum zu einer der ranghöchsten Beamtinnen in der Weimarer Republik, denn nur wenige Frauen erreichten damals diesen Dienstgrad. Zu ihrem Lieblingsprojekt wurde der Aufbau und die Organisation eines Erholungsheimes für kriegsgeschädigte Kinder auf dem Heuberg in der Schwäbischen Alb. Dieses Kinderheim bestand 13 Jahre lang und bot über 100000 erholungsbedürftigen Kindern eine vorübergehende Heimat, bis es 1933 von den Nazis beschlagnahmt und in ein Konzentrationslager umgewandelt wurde. Doch schon zuvor gab es wieder wie 1907 andauernde Behinderungen ihrer Wirksamkeit durch die Männerwelt, so dass sie 1926 kündigte und als freiberufliche Schriftstellerin u.a. ihr Standardwerk „Familienfürsorge“ verfasste, das sie sogar 1951 als überarbeitete Neuauflage nochmals herausbrachte.
1928 zog sie dann nach Heidelberg, da sie einen Lehrauftrag fur soziale Fürsorge an der Universität erhalten hatte. Hier lebte sie bis zu ihrem Tod in einer Wohnung am Friesenberg 1, einem ehemaligen Kloster unterhalb des Schlosses. Ihrem Lehrauftrag entsprechend erörterte Marie Baum Themen wie z.B. Lebensbedingungen städtischer Arbeiterfamilien, Frauenarbeit in Beruf und Haus oder Jugendrecht.
Nach Machtergreifung Hitlers wurde sie von einem besonderen Schicksalsschlag getroffen. Denn völlig überraschend entzog man ihr die Lehrerlaubnis, worunter sie dann schwer litt. In Anwendung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums war sie als Enkelin der Jüdin Rebecka Mendelssohn-Bartholdy „Vierteljüdin“ und damit nichtarisch, was zur Entfernung aus dem Beamtendienst führte.
Von nun an konnte Marie Baum nicht mehr öffentlich wirken. Was sie am peinvollsten traf, war die Entwürdigung und Quälerei der Juden. Doch blieb sie nicht tatenlos, sondern leistete eine Art Nachbarschaftshilfe für Verfolgte und Bedrohte des NS-Regimes. Sie wurde engste Mitarbeiterin von Prälat Hermann Maas, dem damaligen Pfarrer an der Heiliggeistkirche in Heidelberg, der hier die „Hilfsstelle für bedrohte Nichtarier“ leitete. Marie Baum und Hermann Maas verhalfen so ab 1938 Hunderten von jüdischen Bürgern zur Ausreise, indem sie die nötigen Devisen und Bürgschaften besorgten. Die Hiergebliebenen stützte und umgab sie mit liebevoller Fürsorge. Die Gestapo beobachtete sie misstrauisch, Verhöre und Hausdurchsuchungen fanden statt. Mit am schlimmsten traf sie, dass man ihr 50 Bücher aus ihrer Bibliothek entfernte.
Doch ohne Verbitterung und unbeirrt von den unsäglichen Leiden und Wirren des Krieges und der Naziherrschaft, betrieb Marie-Baum gleich nach Kriegsende zusammen mit Hermann Maas und anderen die Wiedereröffnung der von Elisabeth von Thadden 1927 gegründeten Schule im Wieblinger Schloss.
Als konfessionelle Privatschule wurde sie 1941 geschlossen, ihre Gründerin 1943 verhaftet und wegen Wehrkraftzersetzung 1944 im KZ Ravensbrück hingerichtet. Marie Baum kannte Elisabeth von Thadden aus ihrer Tätigkeit auf dem Heuberg und war auch in der Zeit ihrer Verfolgung mit ihr in Verbindung.
Daher war es ihr ein besonderes Anliegen die Wiedereröffnung der nun nach Elisabeth von Thadden benannten Schule als Mitglied des Kuratoriums zu organisieren, dem sie dann bis 1961, also bis zum Alter von 87 Jahren, angehörte.
Anlässlich ihres 75.Geburtstages im März 1949 verlieh ihr die Universität Heidelberg die Ehrenbürgerwürde in „… tiefer Achtung ihres hingebenden, vorbildlichen und bahnbrechenden Wirkens auf dem Gebiet der praktischen Sozialfürsorge … und in dankbarer Anerkennung ihrer umfassenden und erfolgreichen Lehrtätigkeit an der Universität…“
An ihrem 80.Geburtstag kam schließlich noch die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes hinzu. Doch ruhte sie sich immer noch nicht auf ihren Lorbeeren aus, sondern machte sich an die Arbeit, das literarische Werk ihrer besten Freundin Ricarda Huch zu sammeln, zu ordnen und Teile davon als Buch 1955 zu veröffentlichen. Die in ihrem Besitz befindlichen 1600 Briefe Ricarda Huchs (davon 1200 an sie selbst) übergab Marie Baum danach an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar und legte damit den Grundstock des Ricarda-Huch-Archivs.
Am 8. August 1964 starb sie dann nach kurzer Krankheit im Alter von 90 Jahren.
In seiner Trauerrede am Grab Marie Baums sagte ihr langjähriger Wegbegleiter und Freund Prälat Hermann Maas u.a.: „Vom Jahr 1933 an war es die Judennot, die ihr Herz Tag und Nacht bewegte. Aber nicht bloß ihr Herz! Wie oft sah ich sie, wie sie ihre Lebensmittelkarten abschnitt und weitergab. Sie konnte wunderbar fasten.“ Hermann Maas beschrieb sie als eine Frau, die echten, innerlichen Humanismus in die Herzen und Sinne der Jugend legte. Das war ihre besondere Gabe, dass sie der Jugend bis zuletzt diente. Nur 10 Jahre nach ihrem Tod erhielt unsere Schule ihren Namen. Doch soll diese bewundernswerte Frau nun nicht nur unsere in Buchstaben erstarrte Namenspatronin sein, sondern auch als großartiges Vorbild zum sozialen Engagement uns alle immer wieder neu ermutigen, damit auch wir so weitgehend wie möglich ein Leben in sozialer Verantwortung führen.
Helmut Haas (Schulleiter von 1996-2014)